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Dienstag, 9. Oktober 2007

Wien, 8. Oktober 2007

Liebe Freunde von ›Was ist an der Zeit?‹,


Die Erlebnisse der letzten vier Tage veranlassen mich, hier in Wien nicht direkt, wie es gewissermaßen für mich an der Zeit wäre, in Gerry Stockers ›Theory an Methods of political Sience‹ oder Andreas Novys ›Entwicklung gestalten‹ unterzutauchen, - sondern noch einmal auf unser Gespräch zu schauen. Denn es gibt einige Anknüpfungspunkte, die mir zu lebenswirklich und wichtig erscheinen, als dass ich sie getrost jetzt schon der Geschichte übergeben könnte – und so mögen diese Zeilen ein Beitrag sein zur Fortsetzung des Gesprächs.

Voriges Jahr, bei der Hochschulwoche 2006 in Dornach, haben sich einige von uns ja ausführlich mit dem von Hella Wiesberger als Wurzelerkenntnis Steiners beschriebenen Bild des ›Doppelstroms der Zeit‹ auseinandergesetzt – jener großen und einfachen Aussage, dass der Mensch nicht nur als Naturwesen in der Chronik, jenem unaufhaltsam von der Vergangenheit in die Zukunft fließenden Zeitenstrom teilhat, sondern auch als Geisteswesen in die Zukunft denken kann und damit auf irgendeine Art Zugriff zum Kommenden, zum Zeitenstrom des ›Avenir‹ hat.
Die Frage ›Was ist an der Zeit?‹ trifft diesen Nerv. Sie richtet sich an einen Teil in uns, der selten angesprochen wird. Mitunter wird sie vielleicht gar nicht verstanden, in ihrer vollen Dimension - vielleicht als absurd abgetan, weil man ihre Tragweite nicht wahrhaben will, oder man beantwortet sie banal und wischt sie dann schnell vom Tisch, um nicht in Hilflosigkeit zu ersticken.

Mich berührt ihre historische Bedeutung. Weil ein nie gekannter Gesprächsraum eröffnet wird, wenn ich als Mensch meinen Mitmenschen diese Frage stelle. Weil die Zukunft nicht dem Lauf der Welt oder dem Lieben Gott überlassen bleibt, sondern die Frage das Spannungsfeld zwischen erschreckenden tatsächlichen Voraussetzungen und heiligstem inneren Ziel ausleuchtet. Weil sie die konkrete Handlung vorbereitet, aber in der umfassendsten Art. Weil sie die Formulierung von Problemen, von Aufgaben einerseits und von Lösungswegen, von Notwendigkeiten andererseits provoziert, aber nichts voraussetzt, kein Teilgebiet über das andere erhebt. Weil sie nicht abstrakt fragt: ›Was ist für dich das Gute?‹, sondern jedem die Auseinandersetzung mit der Welt hier und heute abverlangt.

Doch genug der Lobesreden an die Präsentierenden, auch wenn sie ganz so gemeint sind. Zurück zu den konkreten Fragen, wie sie in der Abschlussrunde im Raum standen.

Freiheit und Verantwortung – die lebensbestimmenden Begriffe des modernen erwachsenen Menschen, haben uns ja direkt an wirkliche Gestaltungsfragen herangeführt.
Wir alle erleben uns im Spannungsfeld zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit, zwischen Pflichten und Freiheiten. (Ich verzichte jetzt auf Beispiele, denn der Einzelne wird lebendige Bilder vor Augen haben.) Ein weltumstürzender Unterschied in der Betrachtung dieses Zusammenhangs ergibt sich dann, wenn die grundlegende Frage nicht mehr lautet: ›Wie entkomme ich zunehmend den Notwendigkeiten und gewinne an Freiheit?‹, sondern: ›Wo werden die Bedingungen, denen ich mich anpassen muss, gebildet und warum sind sie so wenig freiheitlich?‹

Kennt ihr das Beispiel vom Brückenbauer, das Steiner einmal gebracht hat, um die Gefahren zu beschreiben, in die sich jeder begibt, der im sozialen Leben Entscheidungen trifft?
Wer eine Brücke bauen will, der muss zuerst seine Sache gut durchdenken, die Vorraussetzungen und das Baumaterial kennen, und die Kräftewirkungen genau berechnen – nun ist es bei gewöhnlichen Brücken so, dass die Brücke einstürzt, wenn ein Rechenfehler vorliegt, und der Fehler dadurch unmittelbar sichtbar wird. Bei gesellschaftlichem Bauen, bei Entscheidungen im sozialen Leben, bei Empfehlungen oder gar Gesetzen, da werden laufend unzureichende Annahmen vorausgesetzt, sodass die gewünschten Ergebnisse nicht erzielt werden, nur sind die Zusammenhänge zwischen Denkfehlern und Katastrophen viel schwieriger erkennbar.

Es erfordert exakte Begriffsbildung und echte Denkarbeit, um zu sehen, welch verheerende Auswirkungen die staatliche Bestimmung des Lebens heute mit sich bringt - und es braucht gesunden Menschenverstand und Phantasie, um zu sehen, welch großartige Möglichkeit entstünde wenn die Organisation des Bildungs- und Kulturlebens heute freie, zivilgesellschaftliche Aufgabe wäre. Ich kann keinen Weg in menschenwürdige Freiheit sehen, der am verantwortlichen Verständnis ebendieser Zusammenhängen vorbeiführen könnte.
Aber wie kann man so etwas sagen, angesichts der bestehenden Staatsallmacht und im Anblick einer Zivilgesellschaft, die sich selbst noch nicht erkannt hat? Ja, es sind keine Kleinigkeiten, die da offen stehen, und will ich euch alle einladen, diese Gedanken weiterzubewegen, um zu sehen, ob sie sich als lebensvoll und tragend erweisen können.

Ich danke allen Teilnehmern der Tagung für die durchwegs offene und unkomplizierte Atmosphäre, zu der jeder in seiner Weise beigetragen hat, und hoffe, dass alle wieder gut in den jeweiligen Lebensumfeldern angekommen sind und etwas Schwung in die Alltagspflichten mitnehmen konnten -

und ich freue mich jetzt schon auf weitere fruchtbare Gespräche und Wiedersehen, wo und wann, wird sich zeigen!

Mit herzlichen Grüßen

Clara Steinkellner


P.S.: Und wer etwas mehr über die ›Freie Bildungsstiftung‹ als konkretem Versuch, die Zivilgesellschaft zu stärken, erfahren will, kann sich gerne an mich (stonewaitress{at}hotmail.com) oder Thomas Brunner (votiv{at}web.de) wenden.

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