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Montag, 8. September 2008

sættigt eure seelen

In wütendem Ton fährt Nietzsche seine Betrachtungen über den Wert oder eben Unwert der Geschichte. Nietzsches Überspannen von Zukunft und Vergangenheit tönt wie ein Leitmotiv zur Beantwortung der Frage ›Was ist an der Zeit?‹ – Einen Kampf gegen die lärmende Gegenwart und die lähmenden Historismen will er entfachen mit reifen Seelen, die sich an großen Heldensagen, am Epos gesättigt haben. – Die æsthetischen Phänomene sieht Nietzsche als die eigentliche Quelle der Kultur, übergeordnet jeglicher Wahrheit: ›Nur als æsthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.‹


Friedrich Nietzsche

Geschichte schreibt der Erfahrene und Ueberlegene. Wer nicht Einiges grösser und höher erlebt hat als Alle, wird auch nichts Grosses und Hohes aus der Vergangenheit zu deuten wissen. Der Spruch der Vergangenheit ist immer ein Orakelspruch: nur als Baumeister der Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn verstehen. Man erklärt jetzt die ausserordentlich tiefe und weite Wirkung Delphi‘s besonders daraus, dass die delphischen Priester genaue Kenner des Vergangenen waren; jetzt geziemt sich zu wissen, dass nur der, welcher die Zukunft baut, ein Recht hat, die Vergangenheit zu richten. Dadurch dass ihr vorwärts seht, ein grosses Ziel euch steckt, bändigt ihr zugleich jenen üppigen analytischen Trieb, der euch jetzt die Gegenwart verwüstet und alle Ruhe, alles friedfertige Wachsen und Reifwerden fast unmöglich macht. Zieht um euch den Zaun einer grossen und umfänglichen Hoffnung, eines hoffenden Strebens. Formt in euch ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein. Ihr habt genug zu ersinnen und zu erfinden, indem ihr auf jenes zukünftige Leben sinnt; aber fragt nicht bei der Geschichte an, dass sie euch das Wie? das Womit? zeige. Wenn ihr euch dagegen in die Geschichte grosser Männer hineinlebt, so werdet ihr aus ihr ein ober-stes Gebot lernen, reif zu werden, und jenem lähmenden Erziehungsbanne der Zeit zu entfliehen, die ihren Nutzen darin sieht, euch nicht reif werden zu lassen, um euch, die Unreifen, zu beherrschen und auszubeuten. Und wenn ihr nach Biographien verlangt, dann nicht nach jenen mit dem Refrain ›Herr So und So und seine Zeit‹, sondern nach solchen, auf deren Titelblatte es heissen müsste ›ein Kämpfer gegen seine Zeit.‹ Sättigt eure Seelen an Plutarch und wagt es an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt. Mit einem Hundert solcher unmodern erzogener, das heisst reif gewordener und an das Heroische gewöhnter Menschen ist jetzt die ganze lärmende Afterbildung dieser Zeit zum ewigen Schweigen zu bringen.

Friedrich Nietzsche, 1874 ›Unzeitgemässe Betrachtungen, Zweites Stück – Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‹

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