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Dienstag, 23. Oktober 2007

im angesicht

Sascha Scholz

›Ob wir uns dort als Menschen wirklich begegnen können und wollen, lässt sich nicht mit der Uhr abstimmen, vielleicht aber in der Ur-Zeit. Ob es gelingt, ein wirkliches Gespräch zu beginnen, liegt an uns.‹ hatte einer der Teilnehmer im Vorfeld der Tagung gemeint. Eine andere Teilnehmerin war u.a. im Nachhinein der Meinung, dass mit dem im Vorjahr beschriebenen Bild des ›Doppelstroms der Zeit‹ auf irgendeine Art (ein) Zugriff zum Kommenden, zum Zeitenstrom des ›Avenir‹ bestehen sollte. Es gibt offensichtlich neben dem aus dem eigenen Lebensfeld gestellten Fragen auch Notwendigkeiten, die uns alle gleichermaßen angehen. Eine so universal gestellte Frage wie ›Was ist an der Zeit?‹ könnte im Angesicht der krisenhaften Zustände des Sozialen Lebens sogar ein echtes Volksfest der individuell miteinander redenden und die gemeinsam aus den Unterschieden hervorgehenden Notwendigkeiten zur gemeinsamen Initiative verwandelnden Menschen sein. Voraussetzung ist dafür, erkennen zu wollen, dass diese unsere Tagungs-Frage aus der Lebenswirklichkeit heraus gestellt nicht philosophisch gemeint sein kann. Sicherlich kann keiner dem anderen vorschreiben, was an der Zeit ist aber er kann es ihm sagen. So richtig es ist, dass aus der Geschichte heraus die alten hierarchisch organisierten Wahrheits- und Bekenntnisverwaltungen abgelebt haben sollten, so ergibt sich das heute persönlich zu erringende Verhältnis zur Wahrheit aber nur, wenn im Zusammenhang gedacht wird.

Vier Tage hatten wir genug Zeit und Gelegenheit zum Gespräch über Mögliches und Notwendiges gehabt. Ein Zweifel kann richtiggehend bohren, was an der Zeit sein soll und es konnte vielleicht kaum einer diesen Zweifel sofort und endgültig mit befriedigenden Antworten aus der Welt räumen. Wege dahin konnten indessen aufgezeigt werden. Zu recht richtet sich nämlich zunächst eine solche große Frage an den Einzelnen. Und der merkt dann eventuell, dass er erst mal herauskriegen muss, was er selber will. Würde man aber an diesem Punkt der Entwicklung des ›Was ist für mich an der Zeit‹ stehen bleiben, dann würde der Willkür Tür und Tor geöffnet werden und der Müßiggang den Menschen von seiner wahren Bestimmung wegverführen, weil kein Zusammenhang mit dem sozialen Ganzen gebildet worden ist. Der heutige Individualismus garantiert uns nämlich nicht mehr die Möglichkeit einer lebensvollen Verbundenheit mit dem sozialen Ganzen, sondern er erzeugt im Menschen zuallererst ein duales Bewusstsein, wodurch sich der Mensch als abgeschnittenes Subjekt den sogenannten ›objektiven Gegebenheiten‹ gegenüber gestellt sieht. Ganz anders aber stellt sich die Frage was an der Zeit ist für denjenigen, der sich nicht mehr im Selbstgefühl befangen ›der Welt‹ gegenüberstellen muss, um seinen Halt nicht zu verlieren sondern der sich im sozialen Zusammenhang mit jedem Menschen denken kann und tatsächlich Verantwortung für den Nächsten empfindet.

Schauen wir noch einmal auf unser Gespräch. Mit diesen vier Gesprächs- und Vortragstagen sind Tatsachen geschaffen worden, sind auch wunderbare Berührungspunkte entstanden und gute Kontakte haben sich angebahnt, an die angeknüpft werden kann. Einen Begriff vom, einen Zugriff zum Kommenden, zum Zeitenstrom zu haben heißt ja erst mal nichts anderes als Ursachen zu erkennen. Wer Ursachen erkennt, kann den zukünftigen Folgen in einer bestimmten Weise begegnen. Oder sich seines eigenen Ursachenbauens bewusst werden, quasi als Schöpfer (oder Chancenverpasser) aus dem Nichts. Und für die Gegenwart bedeutet das notwendigerweise, Ursachen der Vergangenheit so aufzuarbeiten, das Zusammenhänge deutlich werden, um der Gegenwart wiederum gerecht zu werden. Denn es geht m.E. nicht um ein Vorwärtseilen in eine irgendwie geartete Zukunft – das wäre Flucht vor der Notwendigkeit, die ja da ist. Notwendig ist heute vor allem auf Forderungen also auf Notwendigkeiten zu achten, denn: ›Die gegenwärtige geschichtliche Menschheitskrisis fordert, dass gewisse Empfindungen entstehen in jedem Menschen, dass die Anregung zu diesen Empfindungen von dem Erziehungs- und Schulsystem so gegeben werde, wie diejenige zur Erlernung der vier Rechnungsarten. Was bisher ohne die bewusste Aufnahme in das menschliche Seelenleben die alten Formen des sozialen Organismus ergeben hat, das wird in Zukunft nicht mehr wirksam sein: Es gehört zu den Entwicklungsimpulsen, die von der Gegenwart an neu in das Menschenleben eintreten wollen, dass die angedeuteten Empfindungen von dem einzelnen Menschen so gefordert werden, wie seit langem eine gewisse Schulbildung gefordert wird. Dass man gesund empfinden lernen müsse, wie die Kräfte des sozialen Organismus wirken sollen, damit dieser lebensfähig sich erweist, das wird, von der Gegenwart an, von dem Menschen gefordert. Man wird sich ein Gefühl davon aneignen müssen, dass es ungesund, antisozial ist, nicht sich mit solchen Empfindungen in diesen Organismus hineinstellen zu wollen. Man kann heute von ›Sozialisierung‹ als von dem reden hören, was der Zeit nötig ist. Diese Sozialisierung wird kein Heilungsprozess, sondern ein Kurpfuscherprozess am sozialen Organismus sein, vielleicht sogar ein Zerstörungsprozess, wenn nicht in die menschlichen Herzen, in die menschlichen Seelen einzieht wenigstens die instinktive Erkenntnis von der Notwendigkeit der Dreigliederung des sozialen Organismus.‹ (Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, S.49) Ob der eine oder andere eine menschliche Begegnung und wirkliches Gespräch erlebt hat, wird jeder für sich jetzt wissen und einer neuen Zusammen- und Weiterarbeit doch hoffentlich freudig entgegensehen. Es ist an der Zeit, dass…


Erfurt, 22. Oktober 2007
Sascha Scholz (dieinternetadresse{at}web.de)

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