›Himmelreich auf Erden‹ informierte ein Schild an der Tür des Studentenzimmers von Schelling, Hölderlin und Hegel im Tübinger Stift am Ende des 18. Jahrhunderts. Gegenseitig begrüssten sie sich mit den alten griechischen Worten ἕν καὶ πᾶν [hen kai pan] – Alles ist eins. – 1913 taucht bei einer Auktion ein loses handschriftliches Blatt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel auf. Vier Jahre später wird es veröffentlicht als ›Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Heute findet sich der Text in der Gesamtausgabe von Hegel. Eine Fülle an Abhandlungen über die Zuweisung des Textes zu einem Autor entstanden. In der Zuweisung des Textes zu Johann Christian Friedrich Hölderlin folgen wir der Argumentation Eckehard Försters, die besonders durch die Bezugnahme auf die Motive von Hölderlins ›Hyperion‹ überzeugt. – Der Text beginnt mitten im Satz ›– eine Ethik.‹ Es handelt sich um einen programmatischen Entwurf für ein philosophisches System bzw. eine aus formulierte Gesinnung im Hinblick auf eine zu erschaffende vernünftige Mythologie. – Für den Arbeitskontext von ANDERZEIT II ist die Lebenskraft und Ursprünglichkeit dieses Textes das Auswahlkriterium. Die Vielzahl der möglichen Bezüge sind zunächst dem Leser überlassen. Das Fragment findet sich hier auf Zugänglichkeit und Lesbarkeit hin gekürzt und bearbeitet. Der vollständige Text findet sich in der Hegelgesamtausgabe oder unschwer im Internet.
Friedrich Hölderlin
Einheit der Vernunft und des Herzens – Vielgestalt der Einbildungskraft und der Kunst | Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts. – Die Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben.
So, wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von späteren Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht, daß die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist oder sein soll, befriedigen könne.
Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.
Ihr seht von selbst, daß hier alle die Ideen, vom ewigen Frieden u.s.w. nur untergeordnete Ideen einer höheren Idee sind: Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung bis auf die Haut entblößen. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit, – Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst. – Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.
Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonnieren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen – und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht.
Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.
Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist‘s, was wir bedürfen!
Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.
Ehe wir die Ideen ästhetisch, das heißt mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.
Kürzung und Einleitung von Ph. Tok | Quelle des vollständigen Fragments: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 1, Frankfurt a. M. 1979, S. 234-237.
Sonntag, 14. September 2008
das letzte und grœsste
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