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Donnerstag, 18. Dezember 2008

was ist kunst?

geschichte der kunstphilosophie
und die wissenschaft der zukunft




29 Abende widmet Joachim Daniel im neuen Jahr der Kunstphilosophie. Im Rahmen seiner mehrjährigen Arbeit bei der A
lexander-Stiftung stellte sich die Frage täglich aufs Neue und verband sich mit seinen Studien zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. So stellt er die Frage dieses Jahr ins Zentrum seines öffentlichen Philosophiekurses, dem ein Jahr zu den ›Quellen der Anthroposophie in der Philosophie des Abendlandes‹, ein Jahr zur ›Philosophie der Freiheit Rudolf Steiners im Kontext der Philosophiegeschichte‹ und ein Jahr zur ›Philosophie des Mythos‹ vorausging. Sein glänzender Vortragsstil – gedanklich dicht und zugleich anschaulich – richtet sich an ein breites, an konkreter Erkenntnis und vielschichtigem Wissen interessiertes Publikum.


Joachim Daniel

Je übermütiger moderne Künstler mit den Grenzen dessen spielen, was man gewohnt ist Kunst zu nennen, desto mehr drängt sich heute die Frage auf, was man unter Kunst eigentlich versteht. Dies umso mehr als ›Fettecken‹, ›Kunstmaschinen‹, ja ›Noise-art‹ und andere Werke moderner Künstler von vielen Menschen durchaus als Kunst wahrgenommen werden. Noch heute gehen die Meinungen über die Gelungenheit von Kunstwerken oft sehr weit auseinander, da sich religiöse, weltanschauliche, moralische Grundüberzeugungen meistens auf irgendeine Weise mit einem spezifischen Kunstverständnis verbunden haben. Zugleich stand und steht fast alle große Kunst immer in einem tiefen Widerspruch zu den jeweils geltenden politischen, religiösen und weltanschaulichen Verhältnissen. Kündet sie von einem ewigen Reich oder ist sie vielmehr mit der Zeit sich wandelnder Ausdruck jeweiliger Gegenwärtigkeit?
Seit der Zeit der alten Griechen haben Menschen über die Kunst nachgedacht und sind dabei zu den widersprechendsten Ergebnissen gekommen. Vor allen Dingen aber die Frage nach Wert und Bedeutung der Kunst für das übrige menschliche Leben. Die Frage nach ihrer Wahrheit und Verantwortung, spaltet bis heute viele Geister. Das man Kunst auch als einen ganz eigenen Weltzugang für den Erkennenden, ja wissenschaftlichen Menschen verstehen kann, das man mit Goethe gesprochen Wissenschaft wie Kunst betreiben könne, ist dabei ein weitgehend vergessener Zugang zur Kunst. Schon heute zeichnet sich aber ab das die Integration künstlerischen Verhaltens in das was wir gewohnt sind Wissenschaft zu nennen ein immer dringenderes Bedürfnis werden müsste.
Im Kurs wird versucht die Wege abendländischen Denkens über die Kunst – nicht immer chronologisch – nachzugehen. Betrachtungen von Kunstwerken, Museumsbesuche etc. begleiten die Arbeit.


29 Abende 2009, Dienstags 20.15 bis 21 Uhr im Scala Basel:
13., 20., 27. Januar | 3., 10., 17., 24. Februar | 3., 10., 17., 31. März | 21., 28. April | 12., 19., 26. Mai | 16., 23., 30. Juni | 15. September | 13., 20., 27. Oktober | 3., 10., 24. November | 1., 8., 15. Dezember

Montag, 1. Dezember 2008

im regen ohne schirm





In den Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland(November 2008), versetzt Wolf-Ulrich Klünker, in seinem Artikel ›Christus und die Ruinen‹, den Leser in die Sphäre von Anderzeit 2.

Dienstag, 25. November 2008

moskau-dornach




Der Berliner Fotograf Achim Hatzius begleitete mit seinen Kameras das Geschehen von ›anderzeit 2‹. Die Arbeiten werden einfließen in die Ausstellung ›Dornach-Moskau‹, die am 27. Februar ihre Vernissage im Haus Duldeck haben wird.


Achim Hatzius
1971 geboren in Rostock | 1994-2000 Diplomstudiengang Fotodesign an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Professor Hans Hansen | 1999 Stipendium des DAAD, Studienaufenthalt in Moskau | seit 2000 freiberufliche Tätigkeit als Fotograf in Berlin, Auftragsarbeiten für Magazine und Werbung, künstlerische Arbeiten und fotografische Recherchen für Ausstellungen und Publikationen | 2000-2001 künstlerisches Mitglied der Gruppe ›Gruppe18‹ | seit 2001 Teilnahme an internationalen Seminaren und Publikationen im Rahmen der ›Plotki‹ Projektreihe

Ausgewählte Ausstellungen und Publikationen
›n/osztalgia‹ Gruppenausstellung, Collegium Hungaricum Berlin, 2007 | ›Lichtung‹ Einzelausstellung, Kunstverein Frankenberg, 2007 | ›ohne Titel‹ in n/osztalgia – Ways of Revisiting the Socialist Past, 2007 | ›Seltsame Geschichten aus Hoppegarten‹ in Matrose Nr. 1, 2007 | ›Night Shift / Ukraine‹ in Plotki Nr. 7, 2006 | Einzelausstellung, Buccaneer Country Club, Hamburg, 2004 | ›Östlich von 30° O‹ Gruppenausstellung, Fotoforum West, Innsbruck /Österreich, 2002 | ›Bella Vista‹ Gruppenausstellung, Palais für aktuelle Kunst, Glückstadt, 2002 | ›10 Tage Natur‹ Gruppenausstellung, Projektraum, Hamburg, 2001 | ›Halb Neun Kasachstan‹ Gruppenausstellung, Club 8, Hamburg, 2001

Samstag, 11. Oktober 2008

erstes bild






[Autor: Stefan Böhme]

Samstag, 27. September 2008

Samstag, 20. September 2008

Donnerstag, 18. September 2008






das taschenbuch zu anderzeit 2

frisch aus der druckerei 116 seiten text und bild

Text von u. a. Friedrich Hölderlin, Rudolf Steiner, Wolf-Ulrich Klünker, Stefan Brotbeck, Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin, Johannes Kiersch, Bodo v. Plato, Gottfried Stockmar, Jochen Bockemühl, Christiane Haid, Louis Deféche, Michael Schäfer, Lisbeth, Johannes Nilo, Johann Sommer, Philipp Tok, …

16 Seiten in Farbe, mit Beiträgen von Albert Steffen, Johann Sommer, Stephane Zwahlen, Corinna Holbein, Lisbeth, Christina Gerodetti, …

Inklusive: projekt.zeitung-kalender.texte

Erhalt des Buches nach Tagungsanmeldung.
Direkt bestellen bei benjamin(at)projektzeitung.org

Direkt kaufen im Gœtheanum und im Rudolf Steiner Archiv.

Sonntag, 14. September 2008

das letzte und grœsste

›Himmelreich auf Erden‹ informierte ein Schild an der Tür des Studentenzimmers von Schelling, Hölderlin und Hegel im Tübinger Stift am Ende des 18. Jahrhunderts. Gegenseitig begrüssten sie sich mit den alten griechischen Worten ἕν καὶ πᾶν [hen kai pan] – Alles ist eins. – 1913 taucht bei einer Auktion ein loses handschriftliches Blatt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel auf. Vier Jahre später wird es veröffentlicht als ›Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Heute findet sich der Text in der Gesamtausgabe von Hegel. Eine Fülle an Abhandlungen über die Zuweisung des Textes zu einem Autor entstanden. In der Zuweisung des Textes zu Johann Christian Friedrich Hölderlin folgen wir der Argumentation Eckehard Försters, die besonders durch die Bezugnahme auf die Motive von Hölderlins ›Hyperion‹ überzeugt. – Der Text beginnt mitten im Satz ›– eine Ethik.‹ Es handelt sich um einen programmatischen Entwurf für ein philosophisches System bzw. eine aus formulierte Gesinnung im Hinblick auf eine zu erschaffende vernünftige Mythologie. – Für den Arbeitskontext von ANDERZEIT II ist die Lebenskraft und Ursprünglichkeit dieses Textes das Auswahlkriterium. Die Vielzahl der möglichen Bezüge sind zunächst dem Leser überlassen. Das Fragment findet sich hier auf Zugänglichkeit und Lesbarkeit hin gekürzt und bearbeitet. Der vollständige Text findet sich in der Hegelgesamtausgabe oder unschwer im Internet.


Friedrich Hölderlin

Einheit der Vernunft und des Herzens – Vielgestalt der Einbildungskraft und der Kunst | Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts. – Die Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben.

So, wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von späteren Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht, daß die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist oder sein soll, befriedigen könne.
Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.

Ihr seht von selbst, daß hier alle die Ideen, vom ewigen Frieden u.s.w. nur untergeordnete Ideen einer höheren Idee sind: Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung bis auf die Haut entblößen. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit, – Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst. – Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.

Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonnieren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen – und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht.
Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.

Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist‘s, was wir bedürfen!
Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.

Ehe wir die Ideen ästhetisch, das heißt mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.

Kürzung und Einleitung von Ph. Tok | Quelle des vollständigen Fragments: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 1, Frankfurt a. M. 1979, S. 234-237.

Montag, 8. September 2008

sættigt eure seelen

In wütendem Ton fährt Nietzsche seine Betrachtungen über den Wert oder eben Unwert der Geschichte. Nietzsches Überspannen von Zukunft und Vergangenheit tönt wie ein Leitmotiv zur Beantwortung der Frage ›Was ist an der Zeit?‹ – Einen Kampf gegen die lärmende Gegenwart und die lähmenden Historismen will er entfachen mit reifen Seelen, die sich an großen Heldensagen, am Epos gesättigt haben. – Die æsthetischen Phänomene sieht Nietzsche als die eigentliche Quelle der Kultur, übergeordnet jeglicher Wahrheit: ›Nur als æsthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.‹


Friedrich Nietzsche

Geschichte schreibt der Erfahrene und Ueberlegene. Wer nicht Einiges grösser und höher erlebt hat als Alle, wird auch nichts Grosses und Hohes aus der Vergangenheit zu deuten wissen. Der Spruch der Vergangenheit ist immer ein Orakelspruch: nur als Baumeister der Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn verstehen. Man erklärt jetzt die ausserordentlich tiefe und weite Wirkung Delphi‘s besonders daraus, dass die delphischen Priester genaue Kenner des Vergangenen waren; jetzt geziemt sich zu wissen, dass nur der, welcher die Zukunft baut, ein Recht hat, die Vergangenheit zu richten. Dadurch dass ihr vorwärts seht, ein grosses Ziel euch steckt, bändigt ihr zugleich jenen üppigen analytischen Trieb, der euch jetzt die Gegenwart verwüstet und alle Ruhe, alles friedfertige Wachsen und Reifwerden fast unmöglich macht. Zieht um euch den Zaun einer grossen und umfänglichen Hoffnung, eines hoffenden Strebens. Formt in euch ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein. Ihr habt genug zu ersinnen und zu erfinden, indem ihr auf jenes zukünftige Leben sinnt; aber fragt nicht bei der Geschichte an, dass sie euch das Wie? das Womit? zeige. Wenn ihr euch dagegen in die Geschichte grosser Männer hineinlebt, so werdet ihr aus ihr ein ober-stes Gebot lernen, reif zu werden, und jenem lähmenden Erziehungsbanne der Zeit zu entfliehen, die ihren Nutzen darin sieht, euch nicht reif werden zu lassen, um euch, die Unreifen, zu beherrschen und auszubeuten. Und wenn ihr nach Biographien verlangt, dann nicht nach jenen mit dem Refrain ›Herr So und So und seine Zeit‹, sondern nach solchen, auf deren Titelblatte es heissen müsste ›ein Kämpfer gegen seine Zeit.‹ Sättigt eure Seelen an Plutarch und wagt es an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt. Mit einem Hundert solcher unmodern erzogener, das heisst reif gewordener und an das Heroische gewöhnter Menschen ist jetzt die ganze lärmende Afterbildung dieser Zeit zum ewigen Schweigen zu bringen.

Friedrich Nietzsche, 1874 ›Unzeitgemässe Betrachtungen, Zweites Stück – Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‹

Donnerstag, 4. September 2008

der kuenstler hat immer recht

Thomas Rieser

In seinen 16 Jahren unermüdlichen Einsatzes musste der ›Alpine Man‹, Hauptdarsteller in Paul McCarthy’s Installation ›The Garden‹*, viele Male repariert werden. Die konstante Tätigkeit des (wie er auch genannt wird) ›Tree Fuckers‹, ließ sowohl die Technik ausfallen, als auch die Gliedmaßen abfallen. McCarthy hätte die ausrangierten ›Fuckers‹ gerne weiter verwendet: ein neues Kunstwerk, das ›Old Fuckers Senior Home‹ schwebte ihm vor, in dem alle dienstalten ›Alpine Men‹ einen Alterssitz gefunden hätten. Der Eigentümer der Installation konnte an dieser Idee jedoch keinen Gefallen entwickeln, er wollte den originalen ›McCarthy‹ behalten. Der Willen des Sammlers galt, und der Künstler hatte keine Macht über seinen ›McCarthy‹.
Das ›Old Fuckers Senior Home‹ wurde nie gebaut.

Was ist original an einem Kunstwerk? Ist Original das Geschaffene, oder das Entstehende? Die kleine Anekdote von ›The Garden‹ zeigt zwei Horizonte auf. Die Definition des ›Originals‹ wird unmöglich, da sie auf der Perspektive des Argumentierenden beruht. Wenn die Essenz des Originals in diesem Sinne variabel ist, woran entzündet sich dann die ästhetische Erfahrung? Gibt es ein Fundament auf das sie sich bezieht?

In meinem Horizont liegt die ästhetische Erfahrung auf dem Fundament des Potentiellen. Die Möglichkeit, oder auch Fähigkeit eine Möglichkeit zu erkennen und dann zu erleben, führt zu einer Erfahrung die ästhetisch ist. Das Kunstwerk ›The Garden‹ hörte in dem Moment auf Kunst zu sein, in dem der Besitzer dem Künstler verbot es weiterzuführen. Der ›Alpine Man‹ ist ein trauriger ›Fucker‹, das ›Senior Home‹ hätte ihm ein Altern in Würde erlaubt. Die ästhetische Erfahrung liegt in dem Potential der Anekdote, nicht in dem aktuellen Kunstwerk.


*Paul McCarthy, The Garden. 1992. Installation, Collection Jeffrey Deitch, New York, NY.

Montag, 1. September 2008

ein schloß ist kein luxus

Gottfried Stockmar

[…] weil die menschliche Gestalt nicht Natur ist; sie ist nicht Natur! Viele Menschen fühlen sich heute nicht unfrei im Denken - das mag auch sein - die Frage ist aber, kann ich mich frei bewegen, kann ich aufrecht sein in meiner Gestalt? Kann ich angemessen leben und habe ich einen Raum? - übrigens ist auch das ein Motiv, ein Gutshaus zu kaufen […]. Ich habe mich immer gefragt: Wie groß muss eine Tür sein, wo die menschliche Gestalt, ohne sich zu bücken, durchgeht, und wie hoch muss ein Raum sein? Ich glaube nicht, dass kleine Kinder im Märchen irgendwie ein Schloss als Luxus ansehen, sondern das ist sozusagen die angemessene […] der menschlichen Gestalt; man wird nicht untergebracht. Ja, wie gesagt, das ist ein langes Thema!

Auszug aus einem Vortrag während anderzeit 1, Oktober 2007

Montag, 25. August 2008

mein blick formt dich

Christiane Haid

›Mein Blick formt dich‹ ist nur die eine, vielleicht die unangenehmere, provokativere Seite der Medaille. Die andere lautet: Dein Blick formt mich – wir sind also beide am ›formen‹. Jeder kennt die Wirkung, die ein Blick erzeugen kann: er kann uns aufmuntern, tragen, anfeuern, erheitern, wärmen, bekräftigen, aber auch klein machen, abschätzen, bannen, fallenlassen, lähmen, vernichten.

Wer den hoffnungs- und erwartungsvollen Blick eines Menschen kennen gelernt hat – allerdings ohne festgelegtes Ziel und Ergebnis – der einen über Jahre begleitet, wird die Wachstumskraft jenes Blickes erfahren haben: Er wird sich an die kräftigende Macht erinnern, die nicht gekannte Fähigkeiten und Möglichkeiten aus den tiefsten Schichten herausgerufen hat. – Wenn einem dagegen nur Schlechtes zugetraut wird, dann ist das Wachstum möglicherweise gering, es stagniert. Hier sind dann alle vorhandenen Widerstandskräfte aufzubieten, um sich zu schützen oder zu behaupten. Es gilt nun – autonom – sich aus eigenen Kräften zu finden. Doch – stimmt es wirklich, dass der Blick formt?

Wer etwas erzählt oder gar vorträgt, kann die Erfahrung machen, dass es der Blick eines Zuhörers ist, der ihn im Darstellen trägt und dem Inhalt, der vermittelt werden will, sogar Flügel verleihen kann. Hinterher stellt sich heraus, dass man etwas gesagt hat, an das man noch nie vorher gedacht hatte – Neues ist im Dialog mit dem Blick möglich geworden. Wie anders ist es dagegen, wenn die Zuhörer zu Boden blicken...

Was hat der Blick hier für eine Qualität? Wohl mehr die der Tragkraft, des Mitgehens, Hingebens als Formen – wieder eine neue, allerdings ganz andere Facette des Phänomens ›Blick‹.

Was also hat es mit der Kraft des Blickes auf sich? Ist hier überhaupt von Ästhetik die Rede?
Der Basler Philosoph Heinrich Barth (1890-1965) sah im Ästhetischen nicht nur eine Eigenschaft, die für die Erscheinung in Frage kommt. Er legt in seinem Hauptwerk ›Erkenntnis der Existenz‹ dar, dass es in der Erkenntnis des Ästhetischen ›viel mehr um das, was die Erscheinung erst zur Erscheinung macht‹, geht. Man könnte hier denken, dass es sich um ein Wortspiel handelt: ›das, was die Erscheinung erst zur Erscheinung macht‹. Doch wurde eingangs deutlich, dass unser Blick bereits ein formendes Element beinhaltet. Wir haben noch nicht den reinen, unverstellten Blick des Kindes, sondern schauen aus oder mit der Vergangenheit unserer Erfahrungen, Deutungsmuster, Anschauungen, kulturellen Prägungen etc. Von diesen losgelöst erst kann von einem gegenwärtigen Erscheinen der Erscheinung gesprochen werden. Es ist der Augenblick, in dem sich etwas ereignet, – in dem, um es mit Barth zu sagen, ›etwas auf dem Spiel steht‹: das Erscheinen der Erscheinung, womit Æsthetik schlechthin gemeint ist.


Heinrich Barth: ›erscheinenlassen‹, ausgewählte Texte aus Heinrich Barths Hauptwerk ›Erkenntnis der Existenz‹ mit Hinführungen von Rudolf Bind, Georg Maier, und Hans Rudolf Schweizer, Basel 1999

Montag, 18. August 2008

kœnigsblau

Urs Dietler

rauschen iii | æsthetische erfahrung entsteht in der differenz, die zu einem spricht. so auch damals. mit einem klassenkameraden durchstreifte ich auftrags eines offenen schulischen projekts das kunstmuseum basel. es muss mein erster besuch in einer kunstsammlung gewesen sein, kam mir doch alles faszinierend und fremd zugleich vor, selbst die bilder, die sich dem, was ich als realität erlebte, am meisten näherten; denn auch sie zeigten jenen verwandelnden blick, den nur – und hier traf ich sie zum ersten mal – künstler haben. natürlich war holbein präziser als ferdinand léger, aber da war dieses überschreiten in seinen porträts, das mich von da an gesichter anders sehen liess; dass ein mensch über sich hinausweist – er machte es für mich sichtbar. und dennoch.

die erste – sozusagen – æsthetische erfahrung meines lebens widerfuhr mir ein stockwerk höher, stand ich doch da plötzlich vor einem bild, das ich zunächst als bild gar nicht wahrnahm. ein hohes, schlankes rechteck, ganz in einem monochromen blau gehalten, schimmerte in tiefem königsblau gleichsam in die wand hinein. es war mir nicht möglich, an dieser erscheinung einfach vorbeizugehen wie an vielen andern, die ich kopfnickend dem aufseher überliess. trotz der verhaltenheit hatte dieses blau etwas überwältigendes, dem ich nur mit dem gang zum beschriftungsschild etwas distanz – cognitive approaching würde man heute sagen – meinte entgegenzusetzen zu können. doch gerade dies verstärkte das enigmatische dieses ereignisses. ich glaube in nachhinein nicht, daß ich irgendetwas erwartet, aber noch erschüttert mich dies: ›the day before one‹, barnett newman. es war der einzige titel, der mir damals diesem blau, das übrigens in sich sehr differenziert, ja moduliert ist, zumutbar erschien. und ich schwankte zwischen ›das ist es‹ und ›das ist es‹.

zur zeit überlege ich, ob ich diesem bild, das ich seither nicht mehr betrachtet habe, wieder begegnen soll. es hängt noch dort, sagte die frau an der kasse, als ich anrief.

Sonntag, 10. August 2008

leinwand als tür


Das Magazin für Gegenwartskultur ›goon‹ zeigt in seiner Artikelserie zur Kunst als Schwelle, verwandte Züge zu ANDERZEIT: ›Unter dem Titel ›Schwellenland‹ finden sich an dieser Stelle [goon] von nun an regelmäßig Betrachtungen, Gedanken und Essays zum Charakter der Kunst als Schwelle und damit im Spannungsfeld von Innen und Außen, Ursprung und Sein, Subjekt und Objekt. Hier sollen zeitgenössische und zeitlose Themen aus allen Medien der Künste Anlass geben, sich der Frage nach dem Kern künstlerischen Schaffens und seiner Rezeption jenseits von medien- und genrespezifischen Referenzrahmen zu stellen.‹ Der Eröffnungsbeitrag widmet sich einer Betrachtung zur Rothko Retrospektive in Hamburg.


Fabian Saul

Das zentrale Bild findet sich im Selbstportrait Rothkos aus dem Jahre 1936. Das figürliche, gar distanziert entrückte Sitzporträt eröffnet einen wesentlichen Abstraktionsmoment. Es sind die kalt-blauen Flecken, an der Stelle, wo gewöhnlich Augen in die Welt blicken. Diese großzügig ausgesparten Ovale lassen sich als Brillenrahmen lesen oder aber als blinde Flecken, als Analogie zum weisen Seher Theiresias, als Moment der Selbstentfremdung. Sie stehen im krassen Kontrast zur unspezifischen Figürlichkeit des Körpers.
Der Blick in die Welt wird dem Menschen dort versagt, wo sich die Schwelle zu ihr befindet, in den Augen. …

hier geht es zum vollständigen Artikel

Montag, 4. August 2008

großer abflug

Lisbeth


›Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.‹
Friedrich Nietzsche

Als ästhetisches Phänomen.
Ästhetik hieß früher einmal das, was zur Erscheinung kommt gegenüber dem, was nicht zur Erscheinung kommt, also im rein Geistigen verbleibt, nicht sinnlich erfahrbar ist.
Die Lehre von den Erscheinungen begrenzte sich später auf einen bestimmten Bereich der Erscheinungen, nämlich auf die schöne Erscheinung, oder, wie Friedrich Schiller in seiner Abhandlung über die ästhetische Erziehung des Menschen es nennt, den schönen Schein, was bei ihm freilich nichts zu tun hat mit einer dahinter versteckten Häßlichkeit, sondern gerade mit einer der Idee der Schönheit adäquaten Form.
Seit uns die Begriffe von dem, was schön ist, nichts mehr sind, über das man sich ohne weiteres einigen könnte, ist auch die Ästhetik bzw das Verständnis, das wir von ihr haben, ins Wanken geraten.

Als Erscheinungslehre nutzt sie uns nicht mehr viel, weil wir uns ziemlich abgewöhnt haben, ein Geistiges vorauszusetzen, zu dem die Erscheinung die andere Seite sein könnte.
Als Lehre von der schönen Erscheinung nutzt sie uns ebenso wenig, weil sich niemand dem Vorwurf der romantischen Vergangenheitssehnsucht aussetzen will und das gewollt Schöne oder beabsichtigt Poetische fast vorsätzlich in seichte Phrasen abrutscht und unglaubwürdig das Lied von der besseren Welt anstimmt, von der keiner mehr was hören will, der die notwendige Entzauberung vollzogen hat und in eine verkündigungsbefreite Welt hinein aufgewacht ist.
Wir haben heute existentielle Bodenhaftung.

Die schöne Erscheinung hat die allgemeine Erscheinung überwunden.
Aber von was wird die schöne Erscheinung überwunden? Von ihrer Abschaffung.
Nach der Schönheit kommt, im Sinne Platons gesprochen, der Tod.
Der Tod. Also nichts mehr, was erscheinen könnte.

›Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.‹

Ist das ästhetische Phänomen nicht mehr geistgetragen noch schönheitbeseelt, was ist es dann, um im Sinne Nietzsches das Dasein und die Welt ewig- als Vergängliches ewig!- rechtfertigen zu können?

Was gibt uns heute auf der Erscheinungsseite das angemessene Gegengewicht zu einer Ewigkeit, aus der wir nicht tatsächlich, wohl aber dem Glauben nach herausgefallen sind?

Die Wahrnehmung. Im Wortsinn.
Die Erscheinung zeigt uns ihr wahres Gesicht nicht mehr ohne unser Zutun, und auch ihr schönes Gesicht schweigt.
Ihre Güte, ihr Wert liegt in der Wahrnehmung.
›Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie sind selbst die Lehre.‹ Goethe






Zur Sache, zum Ort.

Zu den Kisten. Wenn da Kisten stehen, stehen da blauverpackte Kisten. Kein metaphysisches Dahinter, keine Überbedeutung, kein Mehr.
Müllsäcke nimmt man normalerweise nur, um Müll zu verpacken und möglichst schnell loszuwerden, sich nicht mehr drum zu kümmern. Den Inhalt der Kisten sieht man nicht, er ergibt sich jedoch aus dem Titel der Arbeit, Großer Abflug, von dem der Kleine Auszug, die Dokumentation der letztjährigen Präsentation, ein Bestandteil ist. Wenn alles in der Umgebung statisch und fixiert aussieht, empfiehlt sich Mobilität.
Zu dem Parkplatz. Normalerweise steht hier gar nichts, es handelt sich ja um die Einflugschneise* für diejenigen , die in diesem Haus zwischenlanden wollen. Einflugschneisen darf man eigentlich nicht blockieren- es sei denn, die Abflugfrequenz ist so stark wie heute**.
Zum Format der Grundfläche 70x100. Das Bild paßt nur in diesen Rahmen, daher wird es nie wieder so gezeigt werden wie hier und heute. (…)
So, und mehr gibt s nicht.

*Bewerbungsmappenabgaberaum
**Prüfungstag


Ansprache anläßlich Meisterschülerprüfung UdK Berlin14.07. 2008

Montag, 21. Juli 2008

schau-spielen

Louis Defèche

junger Schauspieler und Regisseur, berichtet aus seiner experimentellen Forschung zur Frage nach dem Wesen des ›Schau-spielens‹.

Ich habe beobachten können, wie der Impuls des Bühnenereignisses rein aus dem Willen entsteht. Das heisst aus dem ›Gehen‹. Nicht aus Gefühlen und Gedanken, die erst in Folge auftreten. Nicht dass Gedanken und Gefühle auf der Bühne nichts zu suchen hätten, aber sie können erst auf der Bühne leben, wenn sie aus reinen Willensimpulsen hervorgehen. Der vor der Bühne sitzende Zuschauer will etwas fühlen und verstehen, aber dieses Verstehen und dieses Fühlen muss als Konsequenz der Willensprozesse erscheinen. Dann wirken Verstehen und Fühlen eigentlich, weil sie nicht nur als Gefühle oder Gedanken auftreten, sondern als Kraft. Ich möchte sagen: die Kraft einer Gedankenform, die Kraft eines lebendigen Gefühls. Sonst muss sich der Zuschauer immer bemühen, in das Bühnenereignis hinein zu kommen, und wird dabei eher Kräfte verlieren statt Kräfte zu bekommen.

Die andere Seite ist die Erzählung, die Bilder, die man zeigen möchte, die man sehen, verstehen, miterleben möchte. Aber diese können nur echt auf der Bühne leben, wenn die angedeutete Grundlage als inneres Verständnis beim Schauspieler da ist, dass alles aus ›Willensstoff‹, aus ›Geh-Impulsen‹ gestaltet sein soll.

Was mich überrascht hat ist, dass die Schauspieler oft versuchen, Gefühle zu schaffen oder Gedanken mitzuteilen. Während das überhaupt nicht das Wichtigste ist. Auch habe ich beobachten können, wie der Zuschauer durch echtes Schauspielen belebt und erweckt wird, indem Kräfte von der Bühne zu ihm herabfließen, und wie er dagegen eher müde und unaufmerksam wird, wenn zu wenig Wille auf der Bühne lebt.

Es ist vielleicht ein bisschen gewagt, was ich da erzähle, und will unbedingt weiter erforscht werden, doch so stehen meine Gedanken im Moment.

[Text bearbeitet von Philipp Tok | Korrektur Lisbeth]

Mittwoch, 16. Juli 2008






Lisbeth und Ph. Tok

Montag, 7. Juli 2008

er

æsthetische erfahrung in zeiten des weissen rauschens (ii)

Urs Dietler


ihn zu übersehen war ein leichtes und wäre da nicht diese ruhe um ihn gewesen, so hätte ihn mein blick kaum gestreift. so aber konturierte sich zunächst das rote ornament entlang des etwas hilflos geschnitzten indianerbootes, das hier inmitten der grossstadt einen kleinen park aufwertete. der mann, der wohl dubois heissen könnte, befand sich gleichsam im mittelpunkt eines bildes, dessen komposition ich zunächst als ganze erfasste und die vollkommen schien. dieser moment birgt die æsthetische erfahrung, die wesentlich und immer durch unausgesprochene ganzheit geprägt ist. mit nur leichter verzögerung blitzten die einzelnen bildelemente auf, sich wie in einem relief kurz abhebend: die geschwungene spitze des bootes, die bemalten holzklötze, auf dem es ruht, die sorgsam – als sässe er zuhause – am boden aufgesetzten füsse des mannes, der die schiefe exotik seiner sitzfläche wohl nicht wahrnahm. daß der baum hinter ihm gleichsam aus seinem rücken hervorwuchs, lag an meinem nicht gewählten blickwinkel, gab dem bild jedoch einen inneren halt. mag sein, daß erst diese aufrechte linie mich zum stehen bleiben bewog und die fotografie veranlasste, die mir jetzt zur betrachtung zur verfügung steht. sah ich damals, was ich jetzt sehe? lässt sich die æsthetische erfahrung wiederholen – oder erinnern? ob die ursprüngliche erfahrung am stärksten war, kann ich nicht beurteilen, sie war aber eines: gesättigt und unwiederholbar. sie enthielt neben dem ›bildaussschnitt‹ die ganze peripherie in ihrer umfassenden sinnlichkeit. die erinnerung unterwegs noch vor dem betrachten der fotografie war stark, aber unscharf im nachklang. das fotografische bild jedoch verdrängte sofort das ursprüngliche und erzeugte eine neue, genuine erfahrung, die sich beliebig vertiefen und durch eingehende betrachtung laufend verändern lässt.

Dienstag, 1. Juli 2008

mehr gibt s nicht

Lisbeth

Also – wenn Kunst von Künden kommt und es nichts mehr in unserem Bewußtseinshorizont gibt, von dem man künden könnte, anders als es ein alter Ikonenmaler oder ein Rembrandt erlebt haben muß, um seine Bilder zu verfassen – schließt sich dann nicht jede Verkündigungskultur endlich auch aus unserer Gegenwartskunst aus?

Muß die Sehnsucht nach dem Ewigen, von dem wir nicht tatsächlich, wohl aber dem Glauben nach weit entfernt sind – muß diese Sehnsucht dann nicht notwendig Bildformen vermeiden, die wirklichem Ewigkeitserleben vorbehalten waren und eine höhere Wirklichkeit vermittelt haben?

Inhaltlich wie formal eine Absage an die Ewigkeit zu treffen gelingt Künstlern wie Katja Strunz oder Anselm Reyle, beide Berlin, durch das Ankommen im ganz Bestimmten, das für nichts mehr offen ist als für sich selbst. Geschlossene Formen, in die nichts mehr einfließt als das, was die Form gebildet hat.

Katja Strunz konstruiert spitzwinklige Wandstücke aus laminiertfurniertem Holzimitat. Es könnten etwas verschobene, verzogene Papierfliegerformen sein, hingen sie nicht so aggressiv und schwer und unverrückbar an der Wand. Anselm Reyle setzt achtlos zerknitterte Geschenkfolie hinter wichtiges Plexiglas, dann sieht s nach was aus, oder verchromt in aufwendigen Verfahren Müllcollagen. Das Endprodukt wiegt so schwer, daß es acht Leute braucht, um aufgestellt zu werden.

Kein Entkommen in eine andere Möglichkeit. Kein Entkommen in ein Dahinter, in eine größere Idee, in die der Müll nur verweist. Nein, genau auf das, was sichtbar vor Augen steht, kommt es an. Mehr gibt s nicht. Kein Ausweg. Den man sich als Betrachter mitunter wünscht, denn – schön ist eigentlich was anderes.

Kein Mehr als das Wenige, das da ist. Ein Weniges, das kein Mehr kennen darf um sich ohne Netz über dem Abgrund zu halten. Durchschlag in existentielle Bodenhaftung.

Freitag, 20. Juni 2008

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Donnerstag, 19. Juni 2008

oberflæchen

Johannes Nilo

›Meine Arbeiten brauchen ihre Zeit. Sie ermöglichen es den Betrachtern, das Entstehen einer Erscheinung zu erleben. Sie sind Ausdruck einer visuellen Zurückhaltung, mit der ich die Wahrnehmung zu einer erfahrenden Gegenwart verlangsamen möchte.‹ So beschreibt Tom Chamberlain seine Arbeiten, die vor nunmehr zwei Wochen auf der Art Basel mein Interesse weckten. Meine Schritte verlangsamen sich zwischen den 5000 ausgestellten Werken. Das ziellose Gehen durch diese hochartifizielle Welt wird selbst Teil der Kunsterfahrung. Die Menschen scheinen zu schweben.

Ein Aquarell von Paul Klee hat meine Aufmerksamkeit, nachdem ich entdeckt habe, wie klug das Bild in der Gesamtkonstellation der Galerie inszeniert ist. An der gegenüberliegenden Wand hängen hochglänzende blaue und schwarze Flächen aus der Serie Lighter von Wolfgang Tillmans. Es handelt sich um ›Fotografien‹, die ohne Kamera direkt im Labor dem Licht ausgesetzt worden sind. Dazwischen ist ein Werk platziert, wo vor allem die Materialien auffallen, Sand, Gummi, Rost, durch Wasser und Wind bearbeitetes Holz. Dann sehe ich plötzlich, dass die Wand, wo der Klee hängt, nicht wie die anderen Wände weiß gestrichen ist, sondern hell braun.

Ich befinde mich in einer Welt der Oberflächen, wo unerwartete und neue Bezüge auftauchen. Man begibt sich in einen Raum jenseits der Funktionalität und logischen Bedeutung der Dinge und lässt den Sinn zwischen den Werken und dem Betrachter frei zirkulieren. Das Gefühl, das hier entsteht, ist am ehesten als leicht zu bezeichnen.

Eine frühe Zeichnung Andy Warhols aus den 50er Jahren ist exemplarisch leicht. Keine künstliche Tiefe, keine Ansprüche, die über das hinausgehen, was tatsächlich vorliegt. Eine freie Anordnung von Schmetterlingen in kindlich schlichten Linien ausgeführt. Diese Zeichnung ist einfach, was sie ist, sonst nichts.

Chamberlain geht weiter: ›Meine Arbeiten geben keine Hinweise darauf, was zu ihren Oberflächen gehört und was nicht. Es geht mir um die visuelle Erfahrung von etwas, das unmittelbar bevor steht – oder schon verschwunden ist.‹ Im Handout seiner Berliner Galerie Aurel Scheibler ist zu lesen: ›Tom Chamberlains Werke definieren einen Entstehungsprozess und verfestigen sich schließlich zu einer Möglichkeit oder einer Illumination‹. Eine auffallende Formulierung. Wäre nicht eine Möglichkeit, die sich verfestigt, schon Wirklichkeit? Was wird aus der Möglichkeit, wenn man sie so behandelt wie sonst nur die Wirklichkeit, wenn sie aus eigenem Recht und nicht bloß als Negation der Wirklichkeit gewürdigt wird? Ist es die Zeit selbst, auf die wir hier stoßen?

Samstag, 7. Juni 2008

anpfiff

›the script has already been written‹

Philipp Tok

Unverbindliche Annäherung ist mein Einstiegsmodus für Museen und sonstige Bildanhäufungen. Sehen, was einen treffen könnte. Was ich mitgebracht habe als befruchtbaren Stoff wird sich zeigen. Auch heute auf der ART in Basel. Da ist es schon.
Noch in der Tram ging es mich an, wie es geschehen konnte, dass zwei Veranstaltungen von diesem massiven Umfang zum selben Zeit- und am selben Raumpunkt stattfinden könnten. Die ART, ›grösste Kunstmesse der Welt‹, und die Europameisterschaft in der Disziplin Fußball treffen in Smalltown Basel zusammen. – Noch fast am Anfang der unlimitierten Erlebnisräume zeigt sich eine ansprechende Videoinstallation. Zwei Bildflächen, die im rechten Winkel aufeinander treffen und aufeinander abgestimmt HD Bildfolgen aus einem Fussballstadion zeigen. 17 Kameras sind als Ausgangsmaterial gerichtet auf Zinedine Zidane. Er selbst kommentiert die Bilder hin und wieder in Form von englischen Untertiteln. Der dröhnende Stadionsound wird abwechselnd abgedumpft, ausgeblendet, überspielt von tief gestimmter Musik oder zwischenzeitlich frontal eingeblendet. Dem Beipackzettel ist zu entnehmen, es handelt sich um ein Spiel in Madrid, doch das Spiel ist ausgeblendet. Ich sehe Zidane in schwacher Verfassung, dem Zweifel, vielmehr dem Resignieren anheim gegeben. Die Bilder nehmen mich mit in sein Innenleben, in dem das Wiesenereignis wie ein dümpelnder Tagtraum seinem Eigenleben nachgeht. ›Es gibt Tage, da kommt man ins Stadion und man weiß, alles ist bereits entschieden.‹ Die Stimmung ist dunkel-schicksalsergeben. Heute will nichts gelingen. Nur hin und wieder macht er sich überhaupt die Mühe, dem Ball nachzueifern, um ihn bereits wieder verloren zu haben. ›In mir steigen Erinnerungen an vergangene Tage auf. An große Momente. Der Ball kommt auf mich zu, und bevor ich ihn überhaupt berührt habe, weiß ich, ich werde punkten.‹
Mehr brauch ich nicht. Was auch immer ich noch entdecken sollte, diese Arbeit wird es übertönen. ›The script has already been written.‹

›Zidane, a 21st century portrait – camera 6‹ von Douglas Gordon und Philippe Parreno, 2006, 90 Minuten | Ausschnitt gesehen auf ART unlimited Basel, 6. Juno 2008

Samstag, 31. Mai 2008

ansage

Philipp Tok

Stellt man einmal die Frage ›Was ist an der Zeit?‹ und den Begriff ›Æsthetische Erfahrung‹ in die Welt, tritt einen Schritt zurück und beobachtet, wie die Freisetzung der eigenen Verdichtung angenommen und abgelehnt wird, ist man am Ausgangspunkt dieser Zeilen. – Ein verfrühtes, schematisierendes Resümee.

Verwandt erscheinen die beiden Setzungen in ihrer Mehrdeutbarkeit. Was dem Einen als maßlos in der Totalität der Frage ›Was ist an der Zeit?‹ erscheint, ist dem Anderen die anscheinende Belanglosigkeit einer Thematisierung eines Sekundär-Begriffs wie ›Æsthetische Erfahrung‹. – Der Letztere ist erfüllt von der religiösen Berührung der Anderzeit-Frage. In ihr tönt ›Alles muss anders werden!‹ oder ›Es ist Zeit zu sagen, was ist und was wir unterlassen haben!‹ – Der Erstere, er sieht sich getroffen, den objektiven Gehalt des Subjekts in der Wortanordnung ›Æsthetische Erfahrung‹ Gestalt gewinnen zu sehen.

Eine zweite Verwandtschaft erscheint, wenn die Frage eine Antwort werden soll und der Begriff zur Frage wird. ›Was ist an der Zeit?‹ wirft den Befragten zurück auf das unerkannte Subjekt der Welt. Das unbesehene eigene Subjekt erscheint sich in seiner dunklen Gestalt, wenn es von seinem Erfahren der Kunst sprechen soll. – Die Frage nach dem An-der-Zeit-Sein erhebt den Horizont der Objekt-werden-wollenden Welt. Das ungesehene, tätige Subjekt fällt in den Blick der æsthetischen Erfahrung.

›Was ist an der Zeit?‹ fragt nach verbindlicher, richtender (Selbst/Welt)Erkenntnis. ›Æsthetische Erfahrung‹ zeigt auf die unerschlossenen Dimensionen exakter Selbstbeobachtung. Dem ›verbindlich, richtend‹ verschliesst sich das unbesehene Subjekt. Der geistlos anmutenden, sympathischen Nettwelt der Subjekte verwehrt sich der nach existentieller Erkenntnis strebende Weltgeist(Idealist).

Die Frage ›Was ist an der Zeit?‹ fragt nach einer Phantasie, die vermag, das fragmentarisierte Weltgebäude zu neuer Einheit zu erheben. Nach einer Welt, die ›wahr‹ ist, da sie das tätige und empfangende Subjekt beinhaltet, weist die ›Æsthetische Erfahrung‹.

Samstag, 17. Mai 2008

feste

Feste sind die außergewöhnlichen Momente in unserem Leben, in denen dieses selbst, ästhetisch verwandelt, vor uns tritt.

Donnerstag, 8. Mai 2008

nietzsche

nur als æsthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.

Dienstag, 22. April 2008

rueckwærtsgehen, zum beispiel

Urs Dietler

In einer Reihe von Beitrægen in loser Folge wird Urs Dietler von der ›æsthetischen erfahrung in zeiten des weissen rauschens‹ erzæhlen. Man kœnnte meinen, dass kleine Blickverschiebungen ausreichend wæren, um in den Bereich der æsthetischen Erfahrung zu gelangen, sie sei næmlich latent überall anwesend. Nun ist gerade mit dieser totalen Anwesenheit ein Problem verbunden. Sie scheint næmlich die æsthetischen Erfahrung gleichsam einzupacken und konturlos zu machen. Sie ist also scheinbar da. Jede Verpackung tut so, als wære sie die Verkœrperung der æsthetischen Erfahrung. Hier liegt ein Missverhæltnis vor. Worin dieses Missverhæltnis genauer bestehen kœnnte und welche Interventionen erforderlich wæren, wird von Urs Dietler angegangen.


i. das gehen durch staedte der gegenwart vollzieht sich in raeumen losgeloester beschleunigungen und affichenwechsel. die gemenge von asphalt, hastenden menschen, verglasten buerotuermen und logo-zentrierten busstationen erzeugen erfahrungen, die aesthetisch zu nennen nicht leicht faellt, auch wenn sie es sind. es geht dabei nicht um das fehlende schoene oder das verdeckte natuerliche – beide auch da auffindbar – sondern um einen overflow an fragmentierten eindrücken, der unsere habitate kennzeichnet. die æsthetische erfahrung erscheint gleichsam eingepackt, konturlos. in die differenzen, die æsthetisches aufschliessen, gelangt man durch radikale massnahmen, perspektivenwechsel. langsames rueckwærtsgehen zum beispiel. stunden langes stehen bleiben an einer strassenecke, sprachfetzen auffangend. auch wenn æsthetische erfahrung unhintergehbar ist (als weisses rauschen ist sie permanent), als spezifische verlangt sie einen bewussten vollzug, einen aus der immanenz herausgehobenen reflektierten blickwinkel.

Montag, 14. April 2008

Freitag, 29. Februar 2008

Mittwoch, 20. Februar 2008

Verweis

Am 1. Januar eröffnete Johannes Nilo das diesjährige Gespräch mit dem kleinen Text ›Die Æsthetische Erfahrung als Modus der Zivilgesellschaft‹. Inzwischen hat sich der Begriff ›Æsthetische Erfahrung‹ durchgesetzt zum Arbeitstitel der Oktobertage.
Am 17. Januar schaltete sich ein anonymer Kommentator ein und hinterfragte die Buergel-Niloschen Andeutungen. Inzwischen hat sich daraus ein Erkenntnisgespräch mit Burghard Schildt in Form von Kommentaren entwickelt.
Zur Einsicht nutze man den Kommentarlink unter dem Text oder clicke hier.

Samstag, 16. Februar 2008

tun, wozu man die kraft hat

Johannes Nilo

In einem Gespräch wurde Ludwig Wittgenstein ein moralisches Dilemma vorgelegt: Ein Naturforscher muss sich zwischen seinen medizinischen Forschungen und dem Leben mit seiner Frau entscheiden, was soll er tun? Wittgensteins Antwort: ›Hier, können wir sagen, haben wir alle Elemente einer Tragödie; wir können nur sagen: ‹Gott sei mit dir›.‹
Es gibt laut Wittgenstein offensichtlich keine Lösung, kein moralisch Richtiges als Antwort auf dieses klassische moralische Problem. Handelt es sich hier überhaupt um ein moralisches Problem? Eine Tragödie lässt sich nicht philosophisch lösen, sie muss zu Ende gelebt werden. Oder besser zu Ende gespielt werden, da ja die Tragödie eine Kunstform ist, die sich auf einer Bühne austrägt. Um solche Stücke spielen zu können, brauchen wir Kraft. Aber ohne die richtige Sicht auf die Dinge, ohne einen ästhetischen Blick, werden wir nicht die Tragödie gelungen und glücklich zu Ende bringen können. Schicksal braucht Führung.
Man kann also das oben angeführte Dilemma als ein ästhetisches und nicht als ein moralisches Problem deuten.

Mittwoch, 30. Januar 2008

Dienstag, 22. Januar 2008

Geschichte ohne Anfang und Ende

Johannes Nilo

Hat die Geschichte einen Sinn? Wir hätten es gern, aber wie ist es jetzt wirklich? Wenn sie einen Sinn hat, woher nimmt sie oder bekommt sie ihn? Das sind Fragen, die uns unmittelbar angehen, insofern wir die Geschichte nicht als Abstraktum, sondern als eine zutiefst menschliche und deshalb konkrete Angelegenheit auffassen. Stefan Brotbeck zitierte in seinem Eröffnungsvortrag am 3. Oktober 2007 (siehe voriger Post) Rudolf Steiner: ›Die Geschichte hat aufgehört, Sinn zu haben, weil Anfang und Ende weggefallen sind.‹ Wie ist diese Aussage zu verstehen? Auch in den kosmologischen Entwürfen der Neuzeit ist von Anfang und Ende die Rede. Der springende Punkt ist aber, dass der Mensch – im Unterschied zu alten Kosmogonien – in diesen keinen Platz hat. Als Anfang wird hypothetisch der Urnebel und am Ende ebenso hypothetisch der Wärmetod vorgestellt, ein Zustand, wo alles in eine gleichmäßige Wärme aufgegangen und wo der Mensch abgeschmolzen sein wird. Diese so vorgestellte Anfang und Ende haben nichts in sich, was der Geschichte Bedeutung und Sinn verleiht. ›Die Geschichte wird sinnlos. Und der Mensch ist nur nicht mutig genug in unserer Zeit, sich zu gestehen, daß die Geschichte sinnlos ist, sinnlos aus dem Grunde, weil ihm entfallen ist Erdenanfgang und Erdenende.‹
Gerade durch dieses Sinnloswerden kommt die Geschichte in die Lage, eigentlicher zu werden, zu sich zu kommen. Der Mensch wird Subjekt der Geschichte und die Geschichte wird Mensch. Georg Picht hat diesen Vorgang in dem Ereignis vom Tod Gottes, wie es Nietzsche formuliert, gesehen. Es handelt sich um das größte Ereignis der Geschichte der Menschheit überhaupt, weil sie durch dieses Ereignis freigesetzt wird ›eine Geschichte zu sein, in der sich der Mensch als sein eigenes Kunstwerk hervorbringt und so zum Subjekt seiner Geschichte wird. Im strengsten Sinne des Wortes beginnt die Geschichte also erst mit dem Tode Gottes, Geschichte des Menschen zu sein. Deshalb bedeutet Geschichte für Nietzsche nicht die Kunde von dem, was gewesen ist, sondern er versteht die gesamte, auch die bisherige Geschichte aus dem Hinblick auf die zukünftige Geschichte, so wie er umgekehrt auch die zukünftige Geschichte als ewige Wiederkehr des Gleichen interpretiert. Der Tod Gottes ist das größte Ereignis der Geschichte, weil dieses Ereignis dem Menschen die Freiheit gewährt, seine gesamte Geschichte, so wie sie ist und wie sie sein wird, zu Gesicht zu bekommen und das heißt bei Nietzsche: hervorzubringen und zu wollen.‹
In diesem Sinne kann die Fortsetzung der oben angeführten Steiner-Aussage begriffen werden: die Geschichte ›[...] bekommt wiederum einen Sinn, weil ihr dieser Sinn von der Mitte aus gegeben wird.‹ Diese Sinngebung als eine Schöpfung aus dem Nichts zu verstehen, war Stefan Brotbecks Anliegen.

Montag, 14. Januar 2008

Was noch gar nicht zur Welt gekommen ist


In drei Aufsätzen verfolgt Stefan Brotbeck die Frage der Zeit. Aktualisation, Schöpfung aus dem Nichts, Lebendige Ewigkeit – Motive und Themen seines Eröffnungsvortrags zu ANDERZEIT I erfahren hier eine Verschriftlichung. In wöchentlicher Folge erschienen sie in der Wochenschrift ›Das Goetheanum‹. Ein PDF, mit allen drei Texten, steht hier zum Download bereit(Den letzten Satz zum Download anclicken).

Dienstag, 8. Januar 2008

Der Zukunft andienen

Im Jahresrückblick ›Best of 2007‹ der Neuen Zürcher Zeitung war unter der Rubrik Kunst zu lesen: ›Die Documenta Kassel, die im Sommer zum zwölften Mal stattfand und von Roger Buergel und seiner Frau Ruth Noack kuratiert wurde, diente sich der Zukunft auf seltsame Weise an. Vieles an der Schau sprach dafür, dass sie eigentlich gar nicht für die Gegenwart, sondern vor allem dafür gedacht war, in zwanzig oder dreissig Jahren wiederentdeckt zu werden.‹

Dienstag, 1. Januar 2008

æsthetische erfahrung als modus der zivilgesellschaft

Johannes Nilo

›Heute erscheint ästhetische Bildung als die einzig tragfähige Alternative zu Didaktik und Akademismus auf der einen und Warenfetischismus auf der anderen Seite‹, so Roger M. Buergel, künstlerischer Leiter der ›documenta 12‹. Diese Kunstausstellung formulierte programmatisch und praktizierte einen Bildungsbegriff, welcher für unsere Suche nach der Gegenwart behilflich sein kann und deshalb hier vergegenwärtigt werden soll.
Viel mehr als eine Kunstausstellung im gewohnten Sinn, wollte die documenta einen Erfahrungsraum bieten, der Zugänge zu den komplexen Lebenszusammenhängen der heutigen vernetzten und globalisierten Welt eröffnet. Kunst sei stets die Erfahrung eines bestimmten Verhältnisses von Individuum, Gesellschaft und Umwelt, schreibt Buergel und setzt fort: ›Wollen wir dieses Verhältnis nüchtern und wertfrei betrachten, ja vielleicht neu bestimmen – es wäre an der Zeit – so brauchen wir ein Mittel, das uns unseren unmittelbaren Lebenszusammenhängen entrückt. Dieses Mittel ist nicht die Kunst selbst, wohl aber die Kunsterfahrung – die Begegnung mit einer Größe, die beginnt, wo Bedeutung im herkömmlichen Sinne endet.‹ Kunst ermöglicht eine bestimmte Form von Bildung. Eine ästhetische Bildung, welche die Objekte der Welt nicht lehrhaft, nicht informativ, sondern ästhetisch zueinander in Beziehung setzt, ›um sie in ihrem ‚So-Sein‘ erstrahlen zu lassen‹. Einen solchen Lernprozess wollte die documenta anstoßen. Eine kollektive Kunsterfahrung wie die documenta könne eine Zivilgesellschaft ausbilden, ›die unendliche Lust empfindet angesichts der Komplexität von Ich und Welt und dem Spannungsverhältnis, in dem beide zueinander stehen. Eine Zivilgesellschaft, die bereit ist, den Blick für Zusammenhänge zu öffnen, falsche Offensichtlichkeiten aufzukündigen und sich wenigstens für die Dauer eines Ausstellungsbesuches auf dem bodenlosen Grund ästhetischer Erfahrung zu bewegen.‹
Wir bewegen uns hier auf einem Terrain, das eine produktive Spannung in sich birgt. Einerseits sind wir dem unmittelbaren lebensweltlichen Druck entrückt und einer ästhetischen Bedeutung von Welt und Ich jenseits der logischen und eingeübten Bedeutung und weltlichen Sachzwänge hingegeben. Andererseits verspüren wir eine Dringlichkeit, selber in die Lebenszusammenhänge einzugreifen, real produktiv zu werden. Und es fällt auf, die Künstler und Künstlerinnen der documenta sind in der Welt tätig, sie arbeiten an der Gesellschaft aktiv mit. Dieser aktivistische Aspekt ist in dem letzten der drei Leitmotive der documenta, das der Bildung gilt, festgehalten. Da wird schlicht gefragt ›Was tun?‹ Anknüpfend an das oben Zitierte könnte man sagen es sei an der Zeit, die Lebenszusammenhänge neu zu bestimmen, und die ästhetische Bildung gibt uns hierzu ein Mittel an die Hand.