Christiane Haid
›Mein Blick formt dich‹ ist nur die eine, vielleicht die unangenehmere, provokativere Seite der Medaille. Die andere lautet: Dein Blick formt mich – wir sind also beide am ›formen‹. Jeder kennt die Wirkung, die ein Blick erzeugen kann: er kann uns aufmuntern, tragen, anfeuern, erheitern, wärmen, bekräftigen, aber auch klein machen, abschätzen, bannen, fallenlassen, lähmen, vernichten.
Wer den hoffnungs- und erwartungsvollen Blick eines Menschen kennen gelernt hat – allerdings ohne festgelegtes Ziel und Ergebnis – der einen über Jahre begleitet, wird die Wachstumskraft jenes Blickes erfahren haben: Er wird sich an die kräftigende Macht erinnern, die nicht gekannte Fähigkeiten und Möglichkeiten aus den tiefsten Schichten herausgerufen hat. – Wenn einem dagegen nur Schlechtes zugetraut wird, dann ist das Wachstum möglicherweise gering, es stagniert. Hier sind dann alle vorhandenen Widerstandskräfte aufzubieten, um sich zu schützen oder zu behaupten. Es gilt nun – autonom – sich aus eigenen Kräften zu finden. Doch – stimmt es wirklich, dass der Blick formt?
Wer etwas erzählt oder gar vorträgt, kann die Erfahrung machen, dass es der Blick eines Zuhörers ist, der ihn im Darstellen trägt und dem Inhalt, der vermittelt werden will, sogar Flügel verleihen kann. Hinterher stellt sich heraus, dass man etwas gesagt hat, an das man noch nie vorher gedacht hatte – Neues ist im Dialog mit dem Blick möglich geworden. Wie anders ist es dagegen, wenn die Zuhörer zu Boden blicken...
Was hat der Blick hier für eine Qualität? Wohl mehr die der Tragkraft, des Mitgehens, Hingebens als Formen – wieder eine neue, allerdings ganz andere Facette des Phänomens ›Blick‹.
Was also hat es mit der Kraft des Blickes auf sich? Ist hier überhaupt von Ästhetik die Rede?
Der Basler Philosoph Heinrich Barth (1890-1965) sah im Ästhetischen nicht nur eine Eigenschaft, die für die Erscheinung in Frage kommt. Er legt in seinem Hauptwerk ›Erkenntnis der Existenz‹ dar, dass es in der Erkenntnis des Ästhetischen ›viel mehr um das, was die Erscheinung erst zur Erscheinung macht‹, geht. Man könnte hier denken, dass es sich um ein Wortspiel handelt: ›das, was die Erscheinung erst zur Erscheinung macht‹. Doch wurde eingangs deutlich, dass unser Blick bereits ein formendes Element beinhaltet. Wir haben noch nicht den reinen, unverstellten Blick des Kindes, sondern schauen aus oder mit der Vergangenheit unserer Erfahrungen, Deutungsmuster, Anschauungen, kulturellen Prägungen etc. Von diesen losgelöst erst kann von einem gegenwärtigen Erscheinen der Erscheinung gesprochen werden. Es ist der Augenblick, in dem sich etwas ereignet, – in dem, um es mit Barth zu sagen, ›etwas auf dem Spiel steht‹: das Erscheinen der Erscheinung, womit Æsthetik schlechthin gemeint ist.
Heinrich Barth: ›erscheinenlassen‹, ausgewählte Texte aus Heinrich Barths Hauptwerk ›Erkenntnis der Existenz‹ mit Hinführungen von Rudolf Bind, Georg Maier, und Hans Rudolf Schweizer, Basel 1999
Montag, 25. August 2008
mein blick formt dich
Montag, 18. August 2008
kœnigsblau
Urs Dietler
rauschen iii | æsthetische erfahrung entsteht in der differenz, die zu einem spricht. so auch damals. mit einem klassenkameraden durchstreifte ich auftrags eines offenen schulischen projekts das kunstmuseum basel. es muss mein erster besuch in einer kunstsammlung gewesen sein, kam mir doch alles faszinierend und fremd zugleich vor, selbst die bilder, die sich dem, was ich als realität erlebte, am meisten näherten; denn auch sie zeigten jenen verwandelnden blick, den nur – und hier traf ich sie zum ersten mal – künstler haben. natürlich war holbein präziser als ferdinand léger, aber da war dieses überschreiten in seinen porträts, das mich von da an gesichter anders sehen liess; dass ein mensch über sich hinausweist – er machte es für mich sichtbar. und dennoch.
die erste – sozusagen – æsthetische erfahrung meines lebens widerfuhr mir ein stockwerk höher, stand ich doch da plötzlich vor einem bild, das ich zunächst als bild gar nicht wahrnahm. ein hohes, schlankes rechteck, ganz in einem monochromen blau gehalten, schimmerte in tiefem königsblau gleichsam in die wand hinein. es war mir nicht möglich, an dieser erscheinung einfach vorbeizugehen wie an vielen andern, die ich kopfnickend dem aufseher überliess. trotz der verhaltenheit hatte dieses blau etwas überwältigendes, dem ich nur mit dem gang zum beschriftungsschild etwas distanz – cognitive approaching würde man heute sagen – meinte entgegenzusetzen zu können. doch gerade dies verstärkte das enigmatische dieses ereignisses. ich glaube in nachhinein nicht, daß ich irgendetwas erwartet, aber noch erschüttert mich dies: ›the day before one‹, barnett newman. es war der einzige titel, der mir damals diesem blau, das übrigens in sich sehr differenziert, ja moduliert ist, zumutbar erschien. und ich schwankte zwischen ›das ist es‹ und ›das ist es‹.
zur zeit überlege ich, ob ich diesem bild, das ich seither nicht mehr betrachtet habe, wieder begegnen soll. es hängt noch dort, sagte die frau an der kasse, als ich anrief.
Sonntag, 10. August 2008
leinwand als tür
›
Das Magazin für Gegenwartskultur ›goon‹ zeigt in seiner Artikelserie zur Kunst als Schwelle, verwandte Züge zu ANDERZEIT: ›Unter dem Titel ›Schwellenland‹ finden sich an dieser Stelle [goon] von nun an regelmäßig Betrachtungen, Gedanken und Essays zum Charakter der Kunst als Schwelle und damit im Spannungsfeld von Innen und Außen, Ursprung und Sein, Subjekt und Objekt. Hier sollen zeitgenössische und zeitlose Themen aus allen Medien der Künste Anlass geben, sich der Frage nach dem Kern künstlerischen Schaffens und seiner Rezeption jenseits von medien- und genrespezifischen Referenzrahmen zu stellen.‹ Der Eröffnungsbeitrag widmet sich einer Betrachtung zur Rothko Retrospektive in Hamburg.
Fabian Saul
Das zentrale Bild findet sich im Selbstportrait Rothkos aus dem Jahre 1936. Das figürliche, gar distanziert entrückte Sitzporträt eröffnet einen wesentlichen Abstraktionsmoment. Es sind die kalt-blauen Flecken, an der Stelle, wo gewöhnlich Augen in die Welt blicken. Diese großzügig ausgesparten Ovale lassen sich als Brillenrahmen lesen oder aber als blinde Flecken, als Analogie zum weisen Seher Theiresias, als Moment der Selbstentfremdung. Sie stehen im krassen Kontrast zur unspezifischen Figürlichkeit des Körpers.
Der Blick in die Welt wird dem Menschen dort versagt, wo sich die Schwelle zu ihr befindet, in den Augen. …
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Montag, 4. August 2008
großer abflug
Lisbeth
›Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.‹
Als ästhetisches Phänomen.
Ästhetik hieß früher einmal das, was zur Erscheinung kommt gegenüber dem, was nicht zur Erscheinung kommt, also im rein Geistigen verbleibt, nicht sinnlich erfahrbar ist.
Die Lehre von den Erscheinungen begrenzte sich später auf einen bestimmten Bereich der Erscheinungen, nämlich auf die schöne Erscheinung, oder, wie Friedrich Schiller in seiner Abhandlung über die ästhetische Erziehung des Menschen es nennt, den schönen Schein, was bei ihm freilich nichts zu tun hat mit einer dahinter versteckten Häßlichkeit, sondern gerade mit einer der Idee der Schönheit adäquaten Form.
Seit uns die Begriffe von dem, was schön ist, nichts mehr sind, über das man sich ohne weiteres einigen könnte, ist auch die Ästhetik bzw das Verständnis, das wir von ihr haben, ins Wanken geraten.
Als Erscheinungslehre nutzt sie uns nicht mehr viel, weil wir uns ziemlich abgewöhnt haben, ein Geistiges vorauszusetzen, zu dem die Erscheinung die andere Seite sein könnte.
Als Lehre von der schönen Erscheinung nutzt sie uns ebenso wenig, weil sich niemand dem Vorwurf der romantischen Vergangenheitssehnsucht aussetzen will und das gewollt Schöne oder beabsichtigt Poetische fast vorsätzlich in seichte Phrasen abrutscht und unglaubwürdig das Lied von der besseren Welt anstimmt, von der keiner mehr was hören will, der die notwendige Entzauberung vollzogen hat und in eine verkündigungsbefreite Welt hinein aufgewacht ist.
Wir haben heute existentielle Bodenhaftung.
Die schöne Erscheinung hat die allgemeine Erscheinung überwunden.
Aber von was wird die schöne Erscheinung überwunden? Von ihrer Abschaffung.
Nach der Schönheit kommt, im Sinne Platons gesprochen, der Tod.
Der Tod. Also nichts mehr, was erscheinen könnte.
›Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.‹
Ist das ästhetische Phänomen nicht mehr geistgetragen noch schönheitbeseelt, was ist es dann, um im Sinne Nietzsches das Dasein und die Welt ewig- als Vergängliches ewig!- rechtfertigen zu können?
Was gibt uns heute auf der Erscheinungsseite das angemessene Gegengewicht zu einer Ewigkeit, aus der wir nicht tatsächlich, wohl aber dem Glauben nach herausgefallen sind?
Die Wahrnehmung. Im Wortsinn.
Die Erscheinung zeigt uns ihr wahres Gesicht nicht mehr ohne unser Zutun, und auch ihr schönes Gesicht schweigt.
Ihre Güte, ihr Wert liegt in der Wahrnehmung.
›Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie sind selbst die Lehre.‹ Goethe
Zur Sache, zum Ort.
Zu den Kisten. Wenn da Kisten stehen, stehen da blauverpackte Kisten. Kein metaphysisches Dahinter, keine Überbedeutung, kein Mehr.
Müllsäcke nimmt man normalerweise nur, um Müll zu verpacken und möglichst schnell loszuwerden, sich nicht mehr drum zu kümmern. Den Inhalt der Kisten sieht man nicht, er ergibt sich jedoch aus dem Titel der Arbeit, Großer Abflug, von dem der Kleine Auszug, die Dokumentation der letztjährigen Präsentation, ein Bestandteil ist. Wenn alles in der Umgebung statisch und fixiert aussieht, empfiehlt sich Mobilität.
Zu dem Parkplatz. Normalerweise steht hier gar nichts, es handelt sich ja um die Einflugschneise* für diejenigen , die in diesem Haus zwischenlanden wollen. Einflugschneisen darf man eigentlich nicht blockieren- es sei denn, die Abflugfrequenz ist so stark wie heute**.
Zum Format der Grundfläche 70x100. Das Bild paßt nur in diesen Rahmen, daher wird es nie wieder so gezeigt werden wie hier und heute. (…)
So, und mehr gibt s nicht.
*Bewerbungsmappenabgaberaum
**Prüfungstag
Ansprache anläßlich Meisterschülerprüfung UdK Berlin14.07. 2008